Jeff Wall: “Picture for a Women Analysis”, 1979, Silver dye bleach transparency in light box, Collection of the artist. Copyright © 1979 Jeff Wall

Jeff Wall (*1946) ist ein Bildererzähler und ein ‘Photograph des modernen Lebens’ – in Anklang an Charles Baudelaires berühmtem Essay über Constantin Guys, den „Maler des modernen Lebens“:„Damit jede Modernität einmal Antike zu werden verdient, muss die geheimnisvolle Schönheit, die das menschliche Leben ihr unwillkürlich verleiht, herausgefiltert worden sein.“ Daran arbeitet Jeff Wall und seine Werke drücken eine starke Sehnsucht nach der Autorität der Alten Meister aus, eine Sehnsucht nach einem vergleichbaren Potential in der zeitgenössischen Kunst. Die intensive Beschäftigung mit den Werken bedeutender Maler wie Velázquez, Brueghel, Delacroix oder Manet sowie die Reflexion über fotografische und filmische Strategien haben Jeff Walls Auffassung vom Bild nachhaltig beeinflusst. Er setzt sich ebenso intensiv mit der Geschichte und den Darstellungskonventionen des Mediums Fotografie auseinander, seine Arbeiten zeigen die enge Verbindung des Künstlers zur Tradition der Dokumentarfotografie und der straight photography. In seinem Bild “Picture for Women” bezieht sich der studierte Kunsthistoriker Wall auf Edouard Manets: “Un bar aux Foiles-Bergère”, von 1882.

Edouard Manet: “Un Bar des Folies-Bergère “, 1881, Huile sur toile, 96,2 x 130 cm. Copyright © Coutauld Institue Galleries, Londres

Auf der rechten Seite des durch vertikale Stangen zu einem Triptychon unterteilten Bildes ist der Künstler und Erschaffer der Fotografie zu sehen, der mit dem Auslöserkabel die in der Mitte befindliche Kamera bedient, aus deren Perspektive wir das Bild sehen. Offenbar sehen wir den Blick in einen Spiegel, in dem auch die (verglichen mit Manets Bild) aus der Mitte gerückte Frau zu sehen ist. Blickwinkel des Künstlers und Blickwinkel des Betrachters sind nun getrennt. Er wird aber durch den Künstler konstruiert, er ist der Erschaffer des Bildes. Es ist somit ein fotografische Sinnbild für Jeff Walls Selbstverständnis als Fotograf und Künstler, sowie seiner Vorstellung der Beziehung von Objekt, Künstler, Kamera und Betrachter: Im Zentrum steht nicht mehr die Frau, das Objekt, sondern die Fotografie selber.

Jeff Wall: “A sudden Gust of Wind”, 1993, Copyright © Jeff Wall

Inszenierung, Montage und Dokumentation bestimmen die fotografische Praxis von Jeff Wall, wobei nachgestellte Wirklichkeit und wiedergegebene Realität, Theater und Reportage, fließend ineinander übergehen. Seine Bilder sind wie Theaterstücke inszeniert. Er wählt Schauspieler durch Castings. Die Bühne wird dann geschmückt. Für das Bild “A Sudden Gust of Wind” nach Hokusai soll Wall monatelang nach geeigneten Material für die Kulisse gesucht und an ihr gearbeitet haben. Einige Bilder werden nachträglich mit dem Computer bearbeitet, manipuliert. Jeff Wall wird zum Medienkünstler. Die Kontrollierbarkeit des Bildaufbaus entspricht dem Eindruck der Beklemmung, die Walls Darstellung sozialer Beziehungen häufig eigen ist.

Katsushika Hokusai (Japan, Tokyo (Edo) 1760–1849 Tokyo (Edo)) „Ejiri in Suruga Province (jap. 富嶽三十六景, Sunshū Ejiri)“, ca. 1830–32, aus der Serie “36 Ansichten des Berges Fuji” (Fugaku sanjūrokkei), Holzschnitt, Tinte und Farbe auf Papier, 25.4 x 37.1 cm Copyright © The Metropolitain Museum of Arts, New York, 1000 Fifth Avenue, New York, New York.

Dennoch sind seine Protagonisten nicht auf eine Handlungsweise oder Rollenidentität festgelegt. Sie werden meist in einem Moment des Innehaltens, der (erzwungenen) Ruhe vor einem entscheidenden Ereignis gezeigt, das, wie hier der Windstoß in „A Sudden Gust of Wind” (nach Katsushika Hokusai: “Ejiri in Sugura Province – A sudden gust of Wind”, ca. 1831), dem Geschehen eine plötzliche Wendung geben kann. Dessen weiterer Verlauf bleibt in der Regel offen.

Jeff Wall: “Morning Cleaning, Mies Van der Rohe Foundation, Barcelona”, (1999). Kunstdruck, Format 70 x 90 cm, aufWunsch im Rahmen. Preis auf Anfrage – klicken Sie hier: Anfrage anArt Galerie Nolden/H – Paris

In Morning Cleaning Mies van der Rohe Foundation, Barcelona von 1999 treffen die Gegensätze von Chaos und Ordnung, also zwei ganz unterschiedliche Ordnungssysteme exemplarisch aufeinander. Wall spielt hier eine künstlerische Ordnung gegen eine “Alltags”-Ordnung aus. Die geradezu kristalline, bis ins Detail perfektionistische Struktur der Architektur van der Rohes, die einerseits klar definierte Glas- und Wandflächen zur Raumaufteilung einsetzt und andererseits die Raumeinheiten so offen belässt, dass sich ein fließendes Raumkontinuum ergibt, wird ausgerechnet durch den Akt der Reinigung, das Schaffen von Ordnung, unterlaufen und konterkariert: Die Transparenz der Glasscheiben, die Innen und Außen miteinander verschmelzen lassen, ist einer schlierigen Spülflüssigkeit zum Opfer gefallen. Der Teppich, der eigentlich eine klar abgegrenzte Fläche im fließenden Raumkontinuum schafft, ist wellig umgeschlagen und wird eher zum Stolperstein denn zum raumstrukturierenden Element. Er dekonstruiert die Perfektion der architektonischen Balance ebenso wie die ungeordnet umherstehenden klassischen Mies-van-der-Rohe-Hocker. Wall, der hier wieder seine Photographien wie ein Maler zu komponieren pflegt, versteht es, diese in Wirklichkeitsausschnitte mosaikartig zu erzählerischen Bildwelten zu verdichten.

Mit The Destroyed Room (1978) gestaltet Wall ein Bekenntnis zur Gegenwart und zugleich eine Hommage an ein Werk, das Charles Baudelaire als Inbegriff moderner Gestaltung feierte: La mort de Sardanapale (1827) von Eugène Delacroix.

Jeff Wall: The Destroyed Room (1978), Transparency in lightbox 159 x 234 cm, National Gallery of Canada, Ottawa. Copyright © The artist

Eugène Delacroix: “La mort de Sardanapale” (1827), Öl auf Leinwand, 392 x 496 cm. Musée du Louvre, Paris

Die Paraphrase, die freie Übersetzung in eine andere Sprache, bedeutet Anverwandlung und Reaktualisierung des Vorbildes. Bei Jeff Wall findet diese meist interpikturell statt, also von einem historischen Gemälde, wie hier von Delacroix, selten von einem Text aus (Franz Kafka und Ralph Ellison). Der Künstler versucht bei einer Paraphrase, ein bereits gelöstes Problem auf seine Art neu zu bewältigen. Das zwingt den Betrachter, sich auch mit der Vorlage unter den neuen, modernen Gesichtspunkten der menschlichen Eigenarten (mit Distanz zur Tradition) noch einmal zu beschäftigen:

Exzessiv und revolutionär versuchte Delacroix Seelenzustände zu zeigen, die das Innere des Menschen sichtbar machen, und wendete sich damit gegen die traditionelle Lehre der Akademie zu seiner Zeit. Der Fokus liegt auf der Artikulation der Wahrheit, egal wie „hässlich“ sie sich präsentiert, sie wird dynamisch und farbintensiv vorgeführt. Der Betrachter wird zum Gaffer. Die Gemüter der Pariser Kunstszene dieser Zeit kochten, von einem „Massaker der Malerei“ sprach der Künstler Antoine-Jean Gros. Mit seinem Werk „Der Tod des Sardanapal“ (1827-28) ist Delacroix zu weit gegangen, sofort wurden ihm alle staatlichen Aufträge bis auf weiteres entzogen….

Jeff Wall stellt ein Echo zu Delacroix Komposition vor, mit einer zentral angelegten Diagonalen und einer üppigen Palette blutroter Farben. Die inszenierte Atmosphäre ist das Wiederzusammensetzen einer Szene als Bühnenbild, bei völliger Abwesenheit der Darsteller. “Durch die Tür können Sie sehen, dass es niemals ein echter Raum, sondern ein Set ist“, sagt Wall. Obwohl klar das Schlafzimmer einer Frau erkennbar ist, bleibt die Ursache für die Gewalt unerklärt, und lässt den Betrachter so mit seinen Spekulationen über das hier Geschehene allein zurück.

Jeff Wall, The Thinker, 1986 transparency in lightbox, 239 x 216 cm Collection Lothar Schirmer, Munich Courtesy of the artist. © Jeff Wall.

Jeff Wall: “The Thinker”, 1986 Großbilddia in Leuchtkasten, 239 x 216 cm Sammlung Lothar Schirmer, München. Courtesy of the artist © Jeff Wall / Foto: Pinakothek der Moderne

Ein Schwert steckt in Rodins Denker. Wall bezieht sich oft auf berühmte Kunstwerke, etwa mit der Aufnahme „Der Denker“ (1986), die an die gleichnamige Skulptur von Auguste Rodins Plastik angelehnt ist. Sie wirkt wie das Pendant zum jungen Dörfler am Rande Istanbuls: Ein alter Mann sitzt in Denkerpose vor der Stadtlandschaft; am Horizont sind die Hochhäuser im Zentrum zu erkennen. Der Mann kommt augenscheinlich von außerhalb; irritierenderweise ragt hinter seiner Schulter der Griff eines Schwerts in die Höhe. Ob er es geschultert hat oder ob es ihm im Rücken steckt, ist nicht erkennbar. Wall verbindet hier Rodins Denker mit “Die Bauernsäule”,
Albrecht Dürers Entwurf zu einem Denkmal des Bauernkrieges von 1525, bei dem nicht ein strahlender Sieger die Säule krönt sondern “ein traureter Bauer…,der mit seinem Schwert durchstochen sei”. Er ist in Haltung des Christus auf der Rast dargestellt, einem Motiv, das dem Volk dieser Zeit aus vielen Andachtsbildern vertraut war und bei dem das Schicksal des Bauern so auf die Passion bezogen ist. Dieser Bauer ist der wahre Nachfolger Christi auf Erden.

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Jeff Wall: “Dead Troops Talk”, 1992 (A Vision after an Ambush of a Red Army Patrol, near Moqor, Afghanistan, Winter 1986). Copyright© 1994 Jeff Wall

Lange Zeit inszenierte Wall vor allen Dingen das Bild vor der fotografischen Aufzeichnung, wandte sich aber in den 1990er Jahren auch der digitalen Manipulation von Bildern zu und nutzte sie zur Montage und Nachbearbeitung. So arrangierte er das Bild »Dead Troops Talk« von 1992 mit Schauspielern im Studio und nahm es in einzelnen Teilen auf, die später digital montiert wurden und im Ergebnis eine monumentale Außenaufnahme simulieren. Dennoch verweist das Bild nicht auf eine Situation, die historisch stattgefunden hat und obwohl es realistisch anmutet, ist die Szene offenkundig fiktiv, da tote Soldaten miteinander sprechen und zu scherzen scheinen. Susan Sontag bezeichnete dieses Bild deshalb als »das Gegenteil eines Dokuments« (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München, Wien 2003, S.144 ff.). Walls Bild ist eine fundamentale Kritik an männlicher Gewalt und der zerstörerischen Kraft und Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzung.

Jeff Wall: “Searcher”, 2007, handsigniert, nummeriert, lim. Auflage 50 Exemplare, Format: 27 x 36 cm (10,6 x 14,2 in).Preis auf Anfrage – klicken Sie hier:Anfrage anArt Galerie Nolden/H – Paris

Jeff Walls Interesse gilt seit je her der Sprache des Realismus, den Werten und der Ästhetik der Repräsentation des täglichen Lebens. Viele seiner Arbeiten porträtieren Menschen in prekären Lebensverhältnissen – einem traditionellen Thema von Dokumentarfilm und -fotografie. Mit der Kamera seines Handys hat er einen flüchtigen Moment des Lebens auf der Straße eingefangen. Obwohl dieser Augenblick von scheinbar geringer Bedeutung ist, schwingt in ihm doch die eigene, existenzielle Suche des Fotografen nach dem bildwürdigen Thema nach. Im Falle des Suchenden, zeigt die Figur zudem eine starke Ähnlichkeit mit Seurats Ölstudien von Feldarbeitern aus dem späten 19. Jahrhundert. Und ebenso wie Seurat die letzten Neuerungen der Optik und Farbtheorie aufnahm, um seine pointillistischen Bilder vom Alltag zu malen, benutzt Jeff Wall eine der neuesten Techniken der Visualisierung unserer Welt, um das Leben abzubilden, wie wir es heute wahrnehmen und transformiert es in eine abstrakte chromatische Harmonie.

Jeff Wall: “Fortified Door”, 2008, handsigniert, limit. Auflage 100 Exemplare, Silver gelatine print, Format: 51 x 41cm, (20 x 16 inch), inkl. einer gebunden Ausgabe des Buches: Jeff Wall’s ‘The Complete Edition’, ebenfalls handsigniert und nummeriert von Jeff Wall.Preis auf Anfrage – klicken Sie hier:Anfrage anArt Galerie Nolden/H – Paris


Jeff Wall: “Shop Window Brussels no. 2”, 2009, Colour Inkjet Print, handsigniert und nummeriert von Jeff Wall, Blattformat: 54 x 47 cm, limitierte Auflage 50 Exemplare. Preis auf Anfrage – Anfrage anArt Galerie Nolden/H – Paris – klicken Sie hier!

Jeff Wall: “PASSENGER”, 2008, inkjet print on paper, signiert nummeriert, lim Auflage 50 Exemplare, Bildformat: 20 x 27 cm, Preis auf Anfrage – klicken Sie hier:Anfrage anArt Galerie Nolden/H – Paris

Jeff Wall: “Torso”, 1997, schwarz/weiss Kontaktabzug, handsigniert und nummeriert von Jeff Wall, Blattformat: 43 x 37 cm, limitierte Auflage 50 Exemplare. Preis auf Anfrage – klicken Sie hier:Anfrage anArt Galerie Nolden/H – Paris – klicken Sie hier!

Jeff Wall: “Untangling”, 1994, National Gallery of Victoria, Melbourne, Australia, Copyright© 1994 Jeff Wall

Jeff Walls Interesse an gewissen surrealistischen Aspekten stellt er auch in seiner Arbeit “Untangling” unverholen zur Schau: Obwohl der den Arbeiter umgebende Raum genügend Möglichkeiten zum Aufbewahren und Verstauen von Sachen bietet, weist er keine direkten Hinweis auf einen Ein- oder Ausgang auf. Der Arbeiter selbst sieht sich einem gigantischen Labyrinth von Tauen gegenüber. Beklemmend drängt sich dem Betrachter das Gefühl des Klaustrophobischen auf, ein Gefühl des Ausweglosen und Eingeschlossenseins. Sowohl in dieser Arbeit als auch in “The Quarrel” sind die Menschen in dramatische Geschehnisse verwickelt, aber sie erwecken den Eindruck, als existierten sie gar nicht in der Wirklichkeit, sondern jenseits dieser. Fast möchte man meinen,Walls Akteure sind Bestandteil eines Traums, genauso wie die formlose Masse der Taue, die sich zu bewegen und bösartig zu wuchern beginnt.

Jeff Wall: “The Quarrel”, 1988, © Jeff Wall

“The Quarrel” schildert eindringlich eine alltägliche Szene zwischen Mann und Frau, beide ermüdet, traurig, wortlos. Die Frau sitzt auf dem Bettrand, aber die Art und Weise, wie sie mit gespreizten Fingern die Hand hebt, läßt ahnen, daß sie die Szenerie verlassen wird. Sie hat sich dem Mann abgewandt, der sich zur anderen Seite gedreht in die Bettlaken hüllt. Selbsterklärend drapiert Jeff Wall die Requisiten Kopfkissen und Tücher, um den emotionalen Schnitt zwischen den beiden Personen Ausdruck zu verleihen. Rückbezogen auf den Titel läßt die Aussagekraft der Aufnahme weitaus mehr Schlüsse auf die Beziehung des Paares zu, als hätte der Künstler den eigentlichen Akt des Streitens wiedergegeben. Der Szene haftet etwas Unwirkliches, etwas Künstliches an, was sie fast gänzlich in die Sphäre der Malerei rückt. Elemente des Phantastischen und merkwürdige Details bevölkernWalls Bilder, die auf das offensichtlich Groteske und Unheimliche in der Kunst anspielen, auf Bosch, Grünewald und Goya.

Jeff Wall: “Milk”, 1984 (Transparency in lightbox 1870 x 2290 mm). The Museum of Modern Art, New York. Acquired through the Mary Joy Thomson Legacy. © 2006 Jeff Wall

Jeff Walls Bild „Milk“ beeindruckt durch eine auf den ersten Blick vermittelte Realitätsnähe. Er bildet scheinbar eine vertraute Umgebung und eine scheinbar alltägliche Situationen ab. Dies hat zunächst den Anschein, als handele es sich um eine fotografische Momentaufnahme: Ein Mann der seine Milch verschüttet, dieses Motiv wirkt, als hätte es sich Wall zur Aufgabe gemacht, Gegenstände und Menschen des Alltags möglichst realitätsnah und ungeschönt abzubilden. Der Eindruck eines Schnappschusses drängt sich auf. Was sich auf den ersten Blick als eine Form von Realitätsbezug der Motive darstellt, erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als konstruiert, auch wenn Wall grundsätzlich von gesehenen Dingen ausgeht, seine Motive also nicht nur seiner Phantasie entsprungen sind. Er offeriert somit eine Art „fiktive Realität“: eine inszenierte, künstliche Welt, allerdings mit starkem Bezug zu einer Welt, die der Betrachter wieder zu erkennen meint – sie deckt sich scheinbar mit seiner Erfahrung und wird von ihm als real empfunden. Auf diese Weise macht Wall die Übergänge zwischen „realistisch“ und „unrealistisch“ bzw. „fiktiv“ fliessend und nicht unmittelbar wahrnehmbar. Durch dieses Spiel mit der Realität bzw. der uninszeniert wirkenden Inszenierung wird der Betrachter absichtlich im Unklaren gelassen, wie wirklich diese auf Walls Fotos abgebildete Wirklichkeit tatsächlich ist.
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Jeff Wall: “In Front of a Nightclub”, 2006, Sammlung Pilara Family Foundation © 2007 Jeff Wall
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Ab den neunziger Jahren, also relativ spät im Verlauf seiner künstlerischen Karriere, bekannte sich Jeff Wall auch zur deskriptiven Seite der Fotografie. Nun rückte er die besondere Aura des Schauplatzes – der immer eine wesentliche Grundlage seiner inszenierten Fotografien war – unverfälscht ins Zentrum des Bildes. Wieder bewies er Mut, denn in seinem Zugriff auf die ungestellte Wirklichkeit unterlief er alle Erwartungen an einen eindeutig dokumentarischen Charakter der Bilder: Er entwickelte die vorangegangene cinematografische Fotografie mit der neuen “dokumentarischen” Ausrichtung ästhetisch bruchlos weiter.

Jeff Wall: ‘Volunteer’, 1996, lim Auflage 2 Exemplare, Gelatin Silver Print, 221.5 x 313 cm. Copyright© The Artist

Mitte der neunziger Jahre jedenfalls war – nicht zuletzt durch Jeff Wall selbst – die konzeptuelle künstlerische Fotografie längst mit Farbfotografie identisch geworden. Die Wahl von Schwarzweiß musste zunächst auf Unverständnis stoßen, umso mehr als eine Referenz von ‘Volunteer’, ‘Housekeeping’ oder ‘Cyclist’ (alle 1996) an die mit ihm assoziierte Dokumentarfotografie äußerst vage und zweifelhaft erschien. Tatsächlich nannte Jeff Well als seine Inspirationsquelle für diese Bilder den italienischen neorealistischen Film Roberto Rossellinis oder Vittorio De Sicas. Dieser Verweis scheint stimmig, insofern Wall seine Protagonisten in der Halbnahen des Innenraums aufnahm, einer klassischen Filmeinstellung.

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Jeff Wall: “Cyclist“, 1996, Silver gelatin print, 2290 x 3025 mm, Cinematographic photograph, Private collection, Munich. Copyright© The Artist

Wie Wall die Bildaussage mithilfe seiner Inszenierungskunst steigert, lässt sich auch vorzüglich an der Schwarz-Weiss-Fotografie «The Cyclist» ablesen. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass ein Mensch auf einem angelehnten Fahrrad schlafen oder ruhen kann, aber dieses Rad ist alles, was dem Mann noch geblieben ist, selbst die Körbe darauf sind leer. Ohne das Rad müsste er sich gleich in den Abfall legen, der hier überall verstreut ist. Aber er ist wie verschmolzen mit seinem Velo vor dieser grauen Betonwand, die bei aller Tristesse der Szenerie wieder den Maler in Jeff Wall zu Wort kommen lässt.

Jeff Wall: “War Game“, 2007, transparency in lightbox, courtesy White Cube, London. Copyright© The Artist

Mit seinen neuen großformatigen Schwarzweiß-Tafeln greift Jeff Wall nun heute einerseits seine Schwarzweißversuche aus den neunziger Jahren wieder auf. Andererseits geht er mit diesen Schwarzweißtotalen, die das Umfeld, in dem seine Protagonisten agieren, weit für den Blick des Betrachters öffnen, über den Bezugspunkt Film und die Ära des Neorealismus hinaus – zurück in die Geschichte der Fotografie. Seine Würdigung der klassischen Dokumentarfotografie in ihrer nordamerikanischen Version der “Straight Photography” scheint jetzt über jeden Zweifel erhaben. War Game zum Beispiel, das Foto, in dem ein schwarzer Junge seine Gefangenen bewacht, ruft unwillkürlich die Erinnerung an Fotografien von Gordon Parks wach, dessen Karrierebeginn in die Depressionsära fiel. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht mehr als nur ein Zufall, dass es eben Gordon Parks war, den Ingrid Bergmann bat, sie bei den Dreharbeiten zu Stromboli (1949) zu fotografieren. Sie sah in ihm einen Fotografen, dessen Bildästhetik stark mit der von Rossellini verwandt war. War Game ist eine dieser Ikonen. Das Werk zählt unbedingt zu jenen makellosen, scharfsinnigen Bildern, die unsere Fantasie nachhaltig beschäftigen.

Jeff Wall: “Men waiting”, 2006. Gelatin silver print, 262 × 388 cm, lim. Auflage 3 Exemplare

Mit „Men Waiting“ folgt Wall wieder einem kinematografischen Ansatz. Die Komposition gibt realistisch ein alltägliches Vorkommnis wieder: Eine Gruppe Arbeitsloser wartet auf einen Gelegenheitsjob. Wall durchleuchtet hier die Geschichte der Dokumentarfotografie und des neorealistischen Films. Gleich den Meistern dieser sich wechselseitig beeinflussenden Schulen nimmt er schonungslos die Lebensbedingungen der unteren Gesellschaftsschichten ins Objektiv. Die Trostlosigkeit der Sujets wird durch die monochrome Silbergelatinetechnik noch zusätzlich gesteigert. Der Künstler realisiert seine Aufnahmen direkt vor Ort mit Laiendarstellern, die unverfälscht, ohne gekünsteltes Gehabe agieren. Die Fotografie ist wie kein anderes Medium prädestiniert, die Wirklichkeit festzuhalten. Die souveräne Leichtigkeit, mit der Jeff Wall imstande ist, zwischen Farbe und Schwarz-Weiß sowie zwischen dokumentarischer und kinematografischer Sichtweise zu wechseln, stellt die Voraussetzungen des fotografischen Realismus infrage.

Jeff Wal The Invisible Man

Jeff Wall: After “Invisible Man” by Ralph Ellison, the Prologue, 2000. Silver dye bleach transparency; aluminum light box, 5 ft. 8 1/2 in. x 8 ft. 2 3/4 in. (174 x 250.8 cm) , MoMa, New York.

Das Bild basiert auf einem Roman von 1952, “Der unsichtbare Mann” von Ralph Elliso über einen jungen Schwarzen aus dem Süden der USA, der an einem von Weißen finanzierten College studieren “darf”, sich nicht gefällig und dankbar benimmt, rausgeschmissen wird und dann nach New York geht, wo er irgendwann in einem Keller endet, sich mit 1369 Glühbirnen beleuchtet und sein Buch schreibt. „Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit – und man könnte vielleicht sogar sagen, daß ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar – weil man mich einfach nicht sehen will.“ Jeff Wall hat den Prolog des Buches nachinszeniert und in einer Lichtbox auf der Dokumenta 11 ausgestellt. Der Held hört zum Zeitpunkt des Bildes “Black and Blue” von Fats Waller, trompetet und gesungen von Luis Armstrong.

Jeff Wall, Der unsichtbare Mann, Fridericianum – Präsentation auf der Documenta 11 – 2012

Die Präsentation der inszenierten Fotographie von Jeff Wall, aufgespannt in einem 2,40m hohen und 3,20m breiten weithin sichtbaren metallgerahmten Leuchtkasten im ersten Stock des Fridericianums ist die Inszenierung der Geschichte eines jungen schwarzen Amerikaners und seiner Suche nach der eigenen Identität. In seinem exzellenten, 1952 erschienenen Roman “Invisible Man” hat Ralph Ellison die Geschichte in einer Ich-Erzählung inszeniert. Ellison versucht in seinem Buch – im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung – die Identitätssuche des jungen Schwarzen nicht von seiner Hautfarbe, sondern von den kulturellen Bedingungen her, unter denen er aufgewachsen ist, zu beschreiben. Schon der Beginn des Buches erzählt vom Protagonisten: “Ich bin ein Unsichtbarer. Nein, keine jener Spukgestalten, die Egar Allan Poe heimsuchten, auch keins jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood hergestellt werden, Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit – man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar – weil man mich einfach nicht sehen will … Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Phantasie – ja, alles sieht er, alles, nur nicht mich.”

Jeff Wall greift diesen Abschnitt aus dem Roman auf, der in der Beschreibung gipfelt, was unter “unsichtbar” zu verstehen ist: die Unsichtbarkeit des Menschen ist ein Problem der Konstruktion des inneren Auge des Betrachters. Niemals erkennt der Betrachter die Individualität des anderen, sondern er sieht ihn als eine Puppe oder als sein Werkzeug an. Die platonische Vorstellung, dass man nicht mit den Augen, sondern durch sie hindurch sieht, daß es vom “Bau der inneren Augen” abhängt, was man durch das “körperliche Auge” als Wirklichkeit wahrnimmt, wird zum Topos dieses ersten Abschnitts.

In einem zweiten von Jeff Wall aufgegriffenen Abschnitt geht es um die Wahrheit. Licht ist Wahrheit und daher braucht der Protagonist Licht, auch wenn er die Energie, die er für die aufgehängten 1369 Lampen in seiner Kellerwohnung in Harlem benutzt, durch das Anzapfen der Leitung von der Elektrizitätsgesellschaft stiehlt. Es heißt, dass der junge Schwarze “die Dunkelheit des Lichts” sehen kann. “Licht bestätigt meine Realität, gebiert meine Gestalt”. Da der Protagonist erkannt hat, dass er bisher zu feige gewesen ist, den ihm eigenen Prozess der Individuation und den Weg der Befreiung zu sich selbst zu gehen, versucht er, wie ein Bär in einer warmen Höhle, in der fensterlosen Kellerwohnung in einen “Winterschlaf” zu verfallen. Dort will er sich selbst im Licht der vielen Lampen und im Sog von Musik ausbrüten. Am Ende möchte er wie “ein Osterküken” ausschlüpfen, um seiner eigenen Existenz und Freiheit gewiss zu sein.

Es ist der zweite, 1999 unternommene Versuch von Jeff Wall, eine Erzählung im Medium des Leuchtkasten zu illuminieren, zu inszenieren und damit als Inspirationsquelle zu benutzen. Seine Inszenierung der Geschichte des jungen Schwarzen mit dem Medium der Fotographie ist eine Übersetzung der Geschichte in “die verbreitetste Sprache unserer Zivilisation” (Gisèle Freund). In einem Leuchtkasten erscheint die Geschichte einerseits – wie das Alltagsrequisit der Werbung – als flüchtig wahrgenommenes Geschehen, andererseits ist der Leuchtkasten – ein Wissenschaftsutensil zum Erkennen einer Röntgenaufnahme – ein untrügliches Mittel, um dieser amerikanischen Identitätssuche eines Schwarzen auf den Grund zu gehen.

Der kanadische Künstler hat das Bild, das er nach dem Romantitel “Invisible Man” benennt, am Computertisch Stück für Stück zuammen gesetzt, hat die Nähte und Narben entfernt und eine “Fotographie” erzeugt, die die Anteilnahme des Künstlers an dem Geschehen zeigt und gleichzeitig den Betrachter fasziniert. Er benutzt diese Bildherstellung, um der Erzählung einen neuen Hintergrund und eine Deutung zu geben: denn so kann er das Flüchtige und Zufällige des modernen Alltags mit einem Moment, einem Zipfel des Ewigen verbinden. Ohne diese “Beleuchtung” würde diese Erzählung zerfließen, genauso wie ohne Licht der Farbige in seinem Kellerversteck zu einem Schatten oder Gespenst werden würde. Die “Fotographie”, die den Eindruck erweckt, als ob Jeff Wall gerade selbst die vollgestellte Kellerwohnung betreten würde und den jungen Schwarzen beim Kochtopfreinigen überrascht, lässt den Akt der “Reinigung” durch das zur Obsession gewordene Licht spüren. Sie lässt uns einen Blick auf den “unsichtbaren Mann” werfen, der versucht, zur Besinnung zu kommen, ein anderer zu werden, sein Leben neu zu leben und sein Sich-selbst-fühlen zu spüren.

Jeff Wall, The Drain
Jeff Wall, The Drain, 1989. Copyright© The Artist

Ein Blick in jenes Reich im Schatten junger Mädchenblüte, wie Proust das genannt hätte. The Drain heißt diese Aufnahme von Jeff Wall aus dem Jahre 1989, zu deutsch: Der Abfluß. Zwei Mädchen spielen vor einem Kanalrohr, hüpfen im Sonnenlicht von Stein zu Stein. Was als sommerliches Idyll angelegt ist, entwickelt schnell einen unheimlichen Sog, der über den Blickfang des schwarzen Lochs hinausgeht. Schon wie das Licht die beiden Figuren in ihren Posen einfriert, verheißt nichts Gutes. Das hat der Photokünstler Jeff Wall beim Kino gelernt, wie man mit dem Licht dramatische Effekte erzielt – genausoviel verdankt die Komposition jedoch einem Maler wie Cezanne. So wie Walls Werk insgesamt in jener Grauzone zwischen Schnappschuß und Inszenierung angesiedelt ist, so bewegt sich auch diese Aufnahme auf dem schmalen Pfad zwischen Unschuld und Erwachen, den man Jugend nennt. Da entwickelt diese Mischung aus Neugier und Furcht, welche die Mädchen umtreibt, vor dem Hintergrund des dunklen Ausflusses noch eine ganz andere Spannung. Und vielleicht muß man sich beim Betrachten dazudenken, daß dieses Dia im Original fast drei Meter breit ist und von hinten beleuchtet wird, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie gespenstisch und traumfern diese Szenerie eigentlich wirken soll.

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Literatur:

Jeff Wall: Complete Edition (Englisch),Gebundene Ausgabe– 10. Februar 2010,vonThierry De Duve, Arielle Pelenc,Boris Groys,Jean-Francois Chevrier,Mark Lewis.

Jeff Wall: North and West(Englisch),Gebundene Ausgabe– 26. Januar 2017,vonAaron Peck(Autor)

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Das Poster wurde auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. Es hat eine Größe von 50 x 70 cm, einschließlich eines weißen Randes und des Namens des Künstlers und des Werks, der unterhalb des Bildes aufgedruckt ist. Preis: EUR 125.- inkl. MwSt. Kostenloser Versand innerhalb Europas. Klicken Sie hier!

Jeff Walls Foto ist inspiriert von Katsushika Hokusais “Reisende in einer plötzlichen Brise bei Ejiri” (um 1832) aus “Sechsunddreißig Ansichten des Fuji”, das in der Nähe von Vancouver aufgenommen wurde. Wall nahm über fünf Monate hinweg mehrere Fotos auf und fügte sie digital zusammen, um das endgültige Werk zu schaffen.

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